Nicole Wolf über "Making Of ..."

UNDURCHSICHTIGKEITEN
 
Es dürfte nicht schwer nachzuvollziehen sein, dass viele Archive, so wie auch das Lautarchiv der Humboldt Universität, von Geistern heimgesucht werden. Sollte dies der Fall sein, so können wir davon ausgehen einige davon anzutreffen, wenn wir den Wegen des Archivmaterials folgen. In der Ausstellung „The making of …“ werden sie nun von ihrem Lagerort, an dem das Archivmaterial erfasst und systematisiert ist, an einen anderen, musealen, künstlerischen Ort gebracht, der öffentlich und zugänglich ist. Das Material reist also – und vieles mit ihm. Als Besucher könnten wir uns ebenfalls auf eine Reise einlassen und detektivisch nach Geistern suchen. Die Art der Begegnung, die sich an neuem Ort zwischen uns und den vielen Ebenen von Evidenzen und Latenzen herstellen lässt, wird jedoch davon abhängig sein, wie viel Risiko wir eingehen wollen bei der Betrachtung, dem Zuhören, dem Nachdenken über Stimmen, Bilder, Geschichten, historischen Begebenheiten.
Verschiedenste Schwingungen und Wirrungen könnten uns aufmerksam machen auf unser eigenes Verhaftet- und Impliziert-Sein in Denkmodellen der Moderne. Denn blicken wir auf, hinter, neben oder unter Dokumente, Schellackplatten oder Jahreszahlen, so richten wir unseren Blick auch auf das koloniale Festlegen von Geschichtlichkeit und der politischen Verteilung der Positionen innerhalb dessen. Wir sind konfrontiert mit Konstruktionen von Wahrheit und Differenz, mit dem Drang nach Identifikation, aber ebenso mit dem Räuspern am Ende einer Stimmenaufnahme, zeitlichen Verschiebungen und anderen Ungereimtheiten.
Wenn also Archive ein Ort für Geister sind, könnte man ebenso annehmen, sie seien gefüllt mit einer Art Zeitlichkeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kollabieren lässt. Setzt man Materialien des Archivs frei und führt sie auf andere Weise vor, werden ebenso Spuren gelegt und ein Angebot unterbreitet, das Gezeigte und Gesagte in das Licht des Hier und Jetzt zu setzen. Der Versuch der Individualisierung einer nummerierten Schellackplatte und dessen kategorisierte Stimme als „typisch“ oder „atypisch“ könnte so ein Potential entwickeln, das eingreift in gegenwärtige Strategien von Normierung und Normalisierung. Die Faszination von der Fülle des Archivs und von reizvollen Details und Nuancen des Knisterns und Rauschens wäre somit nicht geleitet von der Obsession des Sammelns und Erfassens mit dem Ziel der Enthüllung einer anderen Wahrheit – sondern von einer politischen Leidenschaft des Andersdenkens. Diese geht meist einher mit der Herausforderung der Grenzen eines Mediums und somit des Filmens, des Ausstellens, des Schreibens sowie der Praxis des Ausstellungsbesucher-Seins. Lassen wir uns darauf ein, werden wir selbst zu Geistern, schweifen umher, lassen uns ein auch auf das was nicht in seiner Gesamtheit verstanden werden will, könnten die verschiedensten Relationen zum Archiv belebt werden.
Nicole Wolf