Berliner Morgenpost vom 20.09.2007

Stimmen aus dem Gestern
Peter Claus

Bezwingend: das Doku-Essay "The Halfmoon Files"
Geistergeschichten haben im Kino Konjunktur. Die Flut an Spielfilmen zum Thema reißt nicht ab. Jetzt erobert das Horror-Genre scheinbar auch den Dokumentarfilm. "The Halfmoon Files" des experimentierfreudigen Berliner Regisseurs Philip Scheffner lässt die Geister längst Verstorbener und einer lang schon beerdigt geglaubten Vergangenheit auferstehen.In Wünsdorf, nördlich von Berlin, befand sich während des Ersten Weltkrieges ein Lager für "exotische Kriegsgefangene", wie etwa den indischen Kolonialsoldaten Mall Singh. Seine Stimme wurde damals aufgezeichnet. Was allein rassistisch gefärbtem Forscherdrang diente. Die im "Halbmondlager" Inhaftierten wurden katalogisiert und kategorisiert. Ausgehend von der Aufnahme des Inders, taucht das Essay ins Gestern ab, um beängstigend schnell in der Gegenwart zu landen. Archivmaterial in Ton und Bild, Momentaufnahmen von heutigen Rechercheversuchen beispielsweise in Indien, knapper Autorenkommentar und eine ungewöhnliche Bildmontage, die auch mal "nur" schwarze Flächen zeigt, sind zu einem faszinierenden Gedankenpuzzle vereint. Deutlich werden noch immer wabernde mitteleuropäische Vorurteile gegenüber "Fremden" und nach wie vor verbreiteter hiesiger Hochmut gegenüber uns fernen Kulturen. Scheffner gibt sich nicht als besserwissender Gutmensch. Stattdessen überlässt er die Zuschauer etwa der Wirkung von Mall Singhs Stimme. Da entsteht ein Sog, den mancher Horrorspielfilm nicht hat.