von Nicole Wolf
THE HALFMOON FILES ist ein Geschenk – ein großzügiges Geschenk und eine Einladung. Eine Einladung zum Reisen in ferne Länder, die dann doch ganz nah sind, zum Forschen nach etwas, was wir nicht erwartet haben, zum Hören auf die Geräusche einer alten Baracke oder einer Landschaft, die langsam aus dem Nebel auftaucht, und zum ganz genauen Betrachten der vielen möglichlichen Bilder einer Stimme. Ein Film als Einladung, den Geistern zu folgen, und gleichzeitig eine zurückhaltende und dennoch eindringliche Aufforderung zum Mitdenken. Anfangs zeigt sich alles ganz einfach und klar, aber bald werden wir heimgesucht: von Geistern, von Stimmen, von vielen Geschichten und schließlich von Strategien und der Macht der Geschichte. Am Ende kommt alles ganz anders, und das ist auch gut so.
Einerseits sind wir mitten im ersten Weltkrieg und in Wünsdorf, einer kleinen Stadt in der Nähe von Berlin. Hier befindet sich das ’Halbmond Lager’ , ein Sonderlager für feindliche Kolonialsoldaten. Wir erfahren vom Ausruf des Djihad, des heiligen Krieges, als deutscher Kriegstrategie im Jahr 1914, und hören von kleinen und großen Geschichten, die mit einer Postkarte beginnen. Diese Postkarte zeigt eine Moschee, und sie hängt in der Kneipe ’Zum Zapfenstreich’ in Wünsdorf, im Jahr 2006.
2006 sind wir auch im Lautarchiv der Humboldt-Universität Berlin. Aber zugleich befinden wir uns im Jahr 1914, in dem die Idee eines Tonarchivs „sämtlicher Völker der Erde“ entsteht; bald darauf leitet der Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen die „Königliche Preußische Phonographische Kommission“.
Ab und zu sind wir auch in Indien. 1892 wird in dem nordindischen Dorf Ranasukhi im Distrikt Ferozpur/Punjab der Sikh Mall Singh geboren.
„Am 11. Dezember 1916 um vier Uhr spricht Mall Singh einen kurzen Text in seiner Muttersprache in einen Phonographentrichter. Das Ganze dauert exakt eine Minute und zwanzig Sekunden.“ – Das ist in Wünsdorf.
Die Stimme des Filmemachers führt uns von Bildmaterial zu Tonmaterial und lässt uns meist eine Zeitlang dabei verweilen. Diese Stimme spricht nach dem ersten Anschein reduziert, faktisch, klar, ohne Wertung. Nach einer Weile scheint das Gesagte jedoch Schwingungen auszusenden und Spuren für den Zuhörer zu legen. Anhand der Maßangaben der Innenarchitektur des Lautarchivs entwickelt man ein Verständnis für die Tiefe und Fülle eines Archivs. Töne, Stimmen, Knistern und Rascheln – neben, mit, hinter oder ohne Bild – eröffnen Resonanzräume. Eine immer wiederkehrende Tonspur scheint schon rein fomal mit den Geistern in Verbindung zu stehen, denn auch hier findet man gleichermaßen Latenz und Tiefe.
Wer sind die Protagonisten des Films? Mall Singh, der als Soldat der britischen Armee mit vierundzwanzig Jahren zum ersten Mal europäischen Boden betritt? Bhawan Singh oder Motilal? Kaiser Wilhelm II.? Wilhelm Doegen, der „Herr des Lautarchivs“? Frau Heyer, die auf dem Areal des ehemaligen Gefangenenlagers lebt und nachts Geräusche hört? Oder die schwarze Schellackplatte, die in der Sonne funkelt? Das Weiß eines überbelichteten Dias, das 1995 in einer Holzkiste gefunden wird? Oder die Peitsche aus dem Völkerkundemuseum, die nach den Dreharbeiten zu einem Kolonialfilm verlorengeht? Das Wunderbare an THE HALFMOON FILES ist, dass für alles Raum geschaffen wird.
Durch die Individualisierung jedes einzelnen Bestandteils des Films entstehen vielschichtige Denkräume. Alle Materialien sind gleichwertige Protagonisten beim Nachdenken über Fragen und beim Aufwerfen neuer Fragen, alle sind Teil der Dramaturgie. Das Impliziertsein des Filmemachers, der dadurch selbst zum Material wird, und die Übergabe der Filmdramaturgie an das Material wird zur formalen Argumentation gegen die Instrumentalisierung von indischen Soldaten als Statisten im Kriegsprojekt. Das koloniale Vorhaben von Wissensproduktion durch Vermessen, Nummerieren, Einordnen und Festschreiben sowie das Zurschaustellen des Fremden wird unterlaufen – und zwar nicht durch eine Gegendarstellung, sondern durch das Vorführen von Geschichtlichkeit auf andere Weise. Das filmische Reflektieren über mögliche Beziehungen zum Archivmaterial führt so zu Erzählweisen, die unaufdringlich und doch umso nachhaltiger unser Verhältnis zum Archiv und seiner Geschichte belebt. Gleichzeitig wird hierdurch aus dem Blick auf Indien eine Begegnung, bei der man sich auf halbem Wege entgegenkommt.
Dieses politische Moment: die Möglichkeit, gegenwärtiges Denken mit Hilfe der Geister der Vergangenheit zu verändern, verbindet sich hier mit dem politischen Potential des Kinos. THE HALFMOON FILES nimmt das kinematografische Potential für eine andere Zeitlichkeit an und erweitert es; Geschichte, Gegenwart und Zukunft kollabieren. Filmischer Mehrwert entfaltet sich aus der Herausforderung an das Medium Film selbst. Die Suche auf dem Weg zum Film mindert dabei nicht die jedem Medium eigenen inhaltlichen, materiellen und sinnlichen Qualitäten, sondern lässt sie zu noch größerer Geltung kommen. Eine mehr als neunzig Jahre alte knisternde Tonaufnahme einer eindringlichen Stimme belebt ein Bild, das so schwarz ist wie eine Schellackplatte. Eine Filmszene wird nacherzählt und spielt mit unserer Erinnerung. Der zugleich handwerkliche und enigmatische Charakter einer Abfolge unbekannter Dias – Porträts indischer Soldaten während des Ersten Weltkriegs – steht neben ruhigen Einstellungen vom heutigen Wünsdorf. Ein fragmentarisches Erzählen, Erleben von Geschichte und Betrachten des Lebens, das aber auch Verantwortlichkeit beinhaltet: Kein Schnitt in diesem Film ist willkürlich.
Daneben stellt THE HALFMOON FILES eine Herausforderung des Dokumentarfilm-Genres dar. Das dokumentarische Material animiert uns zum Fabulieren, und das als real empfundene wird angestossen um die Grenzen des als möglich denkbaren zu erweitern. Das Politische dieses Films liegt gleichermaßen im Sehen, Hören, im sinnlichen Erfahren und im Denken in Vielfalt. Und auch ohne konkrete Vermerke über gegenwärtige politische Strategien im Zuge von Geschichtsschreibungen merken wir sehr wohl, dass es vielerorts spukt.
Nicole Wolf ist Dozentin am Department of Visual Cultures Goldsmiths, University of London
Essay erschienen im Berlinale Katalog 2007