Schichten der Geschichte - Was bleibt in Wünsdorf nach hundert Jahren Herrschaft des Militärs?

taz Beilage vom 14.12.2007
Jan Sternberg

Militärisches steht immer noch hoch im Kurs in Wünsdorf, auch 13 Jahre nach dem Abzug der letzten Truppen aus dem Ort im Süden Berlins. „Unsere Bunkerführungen bringen gutes Geld“, sagt Werner Borchert, Chef der örtlichen „Bücherstadt-Tourismus GmbH“. „Zwischen heißem und kaltem Krieg“ heißt eine Tour. In den Bunkeranlagen „Maybach“ I und II verbargen sich während des Zweiten Weltkriegs die Oberkommandos des Heeres und der Wehrmacht unter Stahlbeton. Daneben lag der Nachrichtenbunker „Zeppelin“, die größte Nachrichtenzentrale in Europa. Nach 1945 kamen die Sowjets, sie bauten vor allem Kasernen, dazu Panzerwerkstätten, Theater und ein Kino. Überreste aller Epochen gibt es reichlich. Bunkertouristen aus der ganzen Welt kommen nach Wünsdorf und staunen über die schiere Größe des Areals.

Aber Werner Borchert ist kein Leichenfledderer des Militarismus. Der große, schlanke Mann hofft eigentlich auf den Boom der Literatur. In den 90er Jahren schon sollte Wünsdorf weg von den Panzern und Trümmern, hin zu den Büchern. Damals sprachen alle von Konversion, dem Umbau der alten Militärgebäude. Antiquare wurden unter großen Versprechungen nach Wünsdorf gelockt, doch für die meisten lohnte sich das Geschäft nicht. Werner Borchert kam, als die Träume zerstoben waren. Er kämpft, plant und hofft. Ab 2008, sagte er, werden wieder Läden dazukommen.

Werner Borchert arbeitet für das Kommende, überdimensional aber regiert in Wünsdorf das Vergangene. Das Militär eroberte den Ort vor 100 Jahren. 1907 entschied das kaiserliche Heer, einen neuen Übungs- und Schießplatz zu errichten und kaufte Land südlich von Zossen. Ab 1910 entstanden die ersten Kasernen, nach Kriegsausbruch 1914 kommen dann die beiden Gefangenenlager für muslimische und andere „koloniale“ Kriegsgefangene der Alliierten hinzu. 1915 wird im „Halbmondlager“ für 45.000 Reichsmark die hölzerne Moschee erbaut.

In die Lager ziehen nach dem Kriegsende 1918 Vertriebene aus Elsaß-Lothringen und Polen, Wünsdorf wird wieder ziviler. Damit ist es 1939 vorbei. Hitlers Wehrmacht stationiert hier die Panzertruppenschule und die beiden Oberkommandos. Fast kampflos fällt Wünsdorf am 20. April 1945 in die Hände der Roten Armee. Auch sie richtet sich hier ein. Das sowjetische „Wjunsdorf“ wird Sitz des Oberkommandos der Truppen in der DDR, eine abgeschirmte sowjetische Stadt in olivgrün, von dessen Bahnhof bis 1994 täglich ein direkter Zug nach Moskau fuhr. Zeitweise lebten hier 50.000 bis 60.000 Männer, Frauen und Kinder. Um Wünsdorf zog sich eine Mauer.

Nachdem die gefallen war, pumpte das Land Brandenburg Millionen in sein größtes Konversionsprojekt. Behörden wurden hierhin verlegt, Beamte und Familien mit Kindern sollten in die „Waldstadt“ ziehen, wie man das Gelände jetzt nannte. Umgerechnet rund 280 Millionen Euro wurden in Straßen und Wohnungsbau gesteckt, man träumte von 10.000 Einwohnern. Doch die Entwicklungsgesellschaft ging pleite. 2500 Menschen leben heute in der Waldstadt. Sie haben schicke Spielplätze und viel Ruhe. Drumherum verfallen die restlichen Kasernen, verblassen Sowjetsterne und kyrillische Losungen. Beim Besucher weicht der erste Schock schnell der Faszination: In Wünsdorf liegen die Schichten der deutschen Geschichte kreuz und quer durcheinander, verweben sich geisterhaft.